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Was lohnt sich im Mai? Drei Perspektiven auf den Nobelpreis

Drei Bücher: Der andere Name, Eine Frau und Das Gespräch in der Kathedrale

Diesen Monat stellen wir drei Bücher vor, deren Autor*innen in den letzten Jahren mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurden. Drei unterschiedliche Stimmen, drei ganz eigene literarische Traditionen, und doch verbindet sie eines: das gemeinsame Verständnis davon, dass Literatur mehr ist als bloße Flucht aus der Realität.

Jon Fosse zeigt, dass man ohne Satzpunkte, ohne große Ereignisse, aber mit existenzieller Schwere erzählen kann. Annie Ernaux gräbt in Familienarchiven, um zu verstehen, wer sie wirklich ist. Und Mario Vargas Llosa kehrt in seinem monumentalen Roman in seine Heimat zurück und zeichnet das Porträt eines Regimes, das mehr als eine Generation zerstört hat.

Diese Auswahl ist nicht gesponsert. Die einzige Voraussetzung für das inoffizielle Qualitätssiegel von Books Factory ist der literarische Wert der Texte.

Jon Fosse, Der andere Name. Heptalogie I–II

Der Literaturnobelpreisträger von 2023 ist ein Autor mit unverkennbarem Stil. Fosse schreibt eine Prosa ohne Punkte, dicht durchzogen von Kommata, Wiederholungen, Bildern und rhythmischer Spannung. Man liest sie wie ein Gebet – oder eine Meditation.

Im Zentrum von „Der andere Name“ steht Asle, ein einsamer Maler in einem norwegischen Küstenort. Es gibt einen Doppelgänger – ebenfalls Asle –, der vielleicht dasselbe Leben hätte führen können. Der eine hat dem Alkohol abgeschworen, zur Religion gefunden und einen gewissen Frieden erreicht. Der andere ist in der Dunkelheit untergegangen. Ihre Schicksale verflechten sich in einer Geschichte voller Rückblenden, Stille und spiritueller Unruhe.

Das ist keine Lektüre für einen Abend – sie verlangt Geduld, Aufmerksamkeit und die Bereitschaft, sich auf eine Literatur einzulassen, die nicht alles erklärt. Doch wer sich einlässt, wird reich belohnt. Karl Ove Knausgård sagte: „Seine Stimme ist unverkennbar.“ Er hatte recht.

Annie Ernaux, Eine Frau

Die Nobelpreisträgerin von 2022 arbeitet seit Jahren an einer Literaturform, die sie selbst als „autobiografische Tatsachenliteratur“ bezeichnet. In „Eine Frau“ setzt sie sich eindringlich mit dem Leben ihrer Mutter auseinander – ehrgeizig, gläubig, gleichzeitig stolz und distanziert – und beschreibt das sich wandelnde Machtverhältnis zwischen Mutter und Tochter.

Ernaux schreibt in einem klaren, analytischen Ton, voller innerer Spannung. Sie rekonstruiert die familiären Prägungen und sozialen Zwänge, die sie und ihre Mutter geprägt haben. Heraus kommt eine kurze, aber eindrucksvolle Studie über Erinnerung, Identität und Klassenherkunft.

Mario Vargas Llosa, Gespräch in der Kathedrale

Mario Vargas Llosa, der 2010 den Nobelpreis erhielt und kürzlich verstorben ist, ist der älteste der drei Autoren. Sein Roman „Das Gespräch in der Kathedrale“ gilt als eines der bedeutendsten Werke des 20. Jahrhunderts. Es führt in das Peru der 1950er-Jahre – regiert von der Militärdiktatur unter General Odría.

Im Zentrum steht das Gespräch zwischen zwei Männern – Santiago und Ambrosio – in einer Bar namens Kathedrale. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein: Hautfarbe, Herkunft, Sozialstatus und Sprache trennen sie. In ihrer Unterhaltung, durchsetzt mit Rückblenden, wird nicht nur ihre persönliche Geschichte, sondern auch die politische Realität des Landes sichtbar.

Diese vielschichtige, strukturreiche Erzählung ist kein moralischer Kommentar – vielmehr lädt Vargas Llosa die Leser*innen dazu ein, selbst zu erkennen, wie Systeme Menschenleben prägen und individuelle Dramen kollektive Wunden widerspiegeln.

Nobel – ja, aber ohne Pathos

Diese Mai-Tipps sind keine leichte Kost. Wahrscheinlich werden Sie sie nicht mit an den Strand oder ins Café nehmen. Aber wenn Sie nach Literatur suchen, die bleibt, die unbequeme Fragen stellt und nachhallt, dann sind Fosse, Ernaux und Vargas Llosa die richtige Wahl.

Ihr Nobelpreis ist mehr als eine Auszeichnung für Stil oder Thema – er ist ein Zeichen dafür, dass Literatur das Leben und seine Widersprüche ernst nimmt.